Senatsbericht zur schulischen Inklusion – verspätet, beschönigend, lückenhaft
Vor knapp zwei Jahren beschloss die Hamburger Bürgerschaft „Maßnahmen zur Verbesserung der Inklusion an Hamburgs Schulen – Konsens mit der Volksinitiative Gute Inklusion “ (1).
In diesem Beschluss wurde festgelegt, dass der Senat jährlich einen Bericht über die Umsetzung dieses Beschlusses veröffentlicht. Tatsächlich erscheint dieser erste Bericht (2) erst nach zwei Jahren.
Die begleitende Presseerklärung des Schulsenators vom 11.11.19 benennt nicht einmal, dass der Senatsbericht diesen Charakter hat. Stattdessen wird in bester Wahlkampfmanier auch mit Fake News gearbeitet.
Sowohl diese ‚Verzögerung‘ als auch die völlig unzureichende Umsetzung des Bürgerschaftsbeschlusses stehen im Widerspruch zum Versprechen von Bürgermeister Tschentscher auf dem SPD-Parteitag 2018:
„Volksentscheide sind verbindlich. Im Gegensatz zu früheren Senaten setzen wir Volksentscheide um, darauf können sich alle Hamburger verlassen.“
Senator Rabe setzt den Bürgerschaftsbeschluss zur Verbesserung der Inklusion in wichtigen Punkten nicht um
Bei Lehrerstellen für sonderpädagogische Förderung wurde zu Lasten der Kinder getrickst
Laut Bürgerschaftsbeschluss sollen die Stunden für Schüler/innen mit Förderbedarf Lernen, Sprache und emotionale-soziale Entwicklung (LSE) deutlich erhöht werden. Die Lehrerzuweisung an die Schulen war zum Schuljahr 2018/19 aber niedriger als beschlossen. Diese Einsparung hätte langfristig eine jährliche Kürzung um 70 Lehrerstellen bedeutet. Die Initiative Gute Inklusion hatte mehrere Monate ergebnislos gegen diesen Verstoß gegen den Bürgerschaftsbeschluss argumentiert. Erst die Ankündigung, diesen Skandal gegebenenfalls zu veröffentlichen, führte zum Erfolg.
Fake News des Senators zur Entwicklung der Personalversorgung in der Inklusion
Senator Rabe behauptet in seiner Presseerklärung vom 11.11.19, dass „die Hamburger Schulbehörde seit 2010 die Zahl zusätzlicher Pädagogen an den allgemeinen Schulen Schritt für Schritt deutlich erhöht hat. Waren 2010 noch 718 zusätzliche pädagogische Stellen für die Inklusion vorgesehen, sind es derzeit 1515.“
Die Zahl „der zusätzlichen pädagogischen Stellen“ betrug aber 2010 deutlich über 1000 (3) und nicht 718 wie vom Schulsenator behauptet. Herr Rabe hat offensichtlich die ca. 350 Stellen der Erzieher/innen und Sozialpädagog/inn/en nicht mitgerechnet.
Das pädagogische Personal wuchs von 2010 bis 2019 nur um die Hälfte und nicht auf das Doppelte wie der Senator behauptet.
Die Zahl der Kinder mit Förderbedarf in der Inklusion stieg dagegen im gleichen Zeitraum auf das Vierfache (4), so dass 2019 die Personalzuweisung pro Kind mit Förderbedarf deutlich geringer als 2010 ist.
Senator Rabe kürzte 2012 massiv die Personalzuweisung pro Kind mit Förderbedarf
Der Schulsenator schaffte 2012 die personell gut ausgestatteten Integrationsklassen und Integrativen Regelklassen ab – entgegen seinem Wahlversprechen.
Für Kinder mit einer Behinderung (5) wurde das Personal um ein Drittel gekürzt, für Kinder mit dem Förderschwerpunkt Lernen, Sprache, emotionale-soziale Entwicklung (LSE) um die Hälfte.
Bis 2014 gab es keine nennenswerte Personalerhöhung trotz der stark steigenden Zahl von Kindern mit Förderbedarf in der Inklusion. Das bedeutet, dass die Förderstunden pro Kind mit LSE weiter abgesenkt wurden.
Bessere Personalversorgung erst durch Proteste und die Volksinitiative
Nach den massiven Kürzungen von 2012 gab es viele Proteste der Betroffenen, die vor den Bürgerschaftswahlen 2015 immer stärker wurden, so dass der Rot-Grüne-Senat sich gezwungen sah, für die Inklusion 125 zusätzliche Stellen bereitzustellten (6).
2017 sorgte dann die Volksinitiative Gute Inklusion gegen den Widerstand des Senators dafür, dass die Personalmittel seit 2018 bis 2023 schrittweise erhöht werden. In den vergangenen zwei Jahren waren das zusätzlich fast 300 Stellen. Damit werden die Kürzungen pro Kind mit Förderbedarf in den vorangegangenen Jahren aber nur zum Teil kompensiert.
Therapie und Pflege für körperbehinderte Kinder fallen zu 40% aus
Die Bürgerschaft hatte beschlossen, dass körperbehinderte Kinder in inklusiven Schulen ab dem Schuljahr 2018/19 genau so viel Therapie und Pflege wie in Sonderschulen erhalten sollen. Die Initiative Gute Inklusion hatte im April 2018 darauf gedrängt, dass die Ausschreibungen für Therapeuten und Pflegekräfte frühzeitig erfolgen. Stattdessen verschleppte die Schulbehörde die Ausschreibungen bis zum September 2018 nach Schuljahresbeginn. Im Schuljahr 2018/19 fielen zwei Drittel der Therapie- und Pflegestunden (7) aus. Im Schuljahr 2019/20 beträgt die Unterversorgung der inklusiven Schulen immer noch 40% (8) gegenüber einem Defizit von 10% in den Sonderschulen. Die beschlossene Gleichbehandlung von Kindern mit einer Behinderung in Inklusion und Sonderschulen findet nicht statt.
Die Unzufriedenheit bei den betroffenen Eltern und bei den Therapeuten ist sehr groß, weil viele Stellen nicht besetzt sind und die Schulbehörde – trotz frühzeitigen Drängens der Volksinitiative – bis heute kein Konzept für eine in den Unterricht integrierte Therapie erarbeitet hat.
Qualitätsentwicklung sieht anders aus.
Die zusätzlichen Flächen für behinderte Kinder kommen im Senatsbericht nicht vor
In dem Bürgerschaftsbeschluss wurde vereinbart, dass „im Musterflächenprogramm ab dem 1.8.2018 für alle Schulen mit mindestens 10 Schülerinnen und Schülern mit einer Behinderung ein zusätzlicher Flächenbedarf für Pflege, Therapie, Psychomotorik und Gruppenräume von 8m² pro Schüler/in mit einer Behinderung vorzusehen“ ist. Im Senatsbericht kommt dieser Punkt nicht vor.
Fake News zum angeblich barrierefreien Schulbau in Hamburg
In dem Senatsbericht (2) heißt es: „Baumaßnahmen an Schulen (werden) seit Jahren konsequent barrierefrei geplant und ausgeführt.“(S.1) Diese Aussage ist falsch.
Eines von vielen Beispielen: Die Stadtteilschule Bergedorf hat 2018 für einen mit 5,7 Mio Euro grundsanierten und erweiterten dreigeschossigen Schulbau mit 19 Klassenräumen keinen Fahrstuhl (Kosten 0,2 Mio Euro) erhalten, obwohl dort viele SchülerInnen mit einer Gehbehinderung lernen.
Senator Rabe definiert den Begriff Barrierefreiheit willkürlich um
In der Hamburger Bauordnung §52 heißt es:
„Bauliche Anlagen, die öffentlich zugänglich sind, müssen in den dem allgemeinen Besucherverkehr dienenden Teilen von Menschen mit Behinderungen, alten Menschen und Personen mit Kleinkindern barrierefrei erreicht und ohne fremde Hilfe zweckentsprechend genutzt werden können. Diese Anforderungen gelten insbesondere für Einrichtungen der Kultur und des Bildungswesens.“
D.h. insbesondere in Schulen müssen alle „dem allgemeinen Besucherverkehr dienenden Räume“ barrierefrei zugänglich sein.
In dem Senatsbericht heißt es dagegen: „Im Rahmen von Sanierungsmaßnahmen ist sicherzustellen, dass alle schulischen Funktionen den Anforderungen der DIN 040-1 genügen, nicht aber alle schulischen Räume.“(S.8) Mit dieser unhaltbaren Begründung wurde auch der Fahrstuhleinbau für das 19-Klassen-Gebäude der Stadtteilschule Bergedorf verweigert.
Barrierefreiheit für inklusive Schulen wird nicht umgesetzt
Die Bürgerschaft hatte beschlossen, dass von 2018-2023 mindestens 35 Millionen Euro für die Herstellung der Barrierefreiheit im schulischen Gebäudebestand investiert werden sollen entsprechend dem Leitfaden zur Sicherstellung der Barrierefreiheit im Schulbau. Für die zwei Jahre 2018 und 2019 könnten also ca. 12 Mio Euro dafür zur Verfügung stehen. Tatsächlich wurden nur 4 Mio Euro für diesen Zeitraum veranschlagt (9).
Senator Rabe beauftragte Schulbau Hamburg, in jedem Bezirk jeweils zwei Schulen, die behinderte Kinder inklusiv beschulen, „weitgehend barrierefrei“ umzubauen. Die Befragung dieser Schulen durch die Initiative gute Inklusion ergab, dass in vielen dieser Schulen keine wirkliche Barrierefreiheit geplant wird. Ein Beispiel: Eine Grundschule soll für ein dreigeschossiges Gebäude mit zwölf Klassenräumen keinen Fahrstuhl bekommen, so dass die meisten Räume nicht barrierefrei erreichbar sind.
Das Menschenrecht auf Inklusion wird durch unzureichende Bedingungen ausgehöhlt
Viele Eltern, die sich für ihr behindertes Kind eine inklusive Schule wünschen, melden es wegen fehlender Therapie, Pflege und Barrierefreiheit sowie wegen des eingeschränkten Schulwahlrechts an den besser ausgestatteten Sonderschulen an. Deshalb hat sich in den letzten zehn Jahren die Zahl der Kinder mit Behinderung an den Sonderschulen nicht verringert. So wird das Menschenrecht auf Inklusion durch unzureichende Bedingungen ausgehöhlt.
Die Initiative Gute Inklusion fordert Senator Rabe auf, für Kinder mit einer Behinderung endlich den Sonderschulen vergleichbare Rahmenbedingungen in der Inklusion zu schaffen, damit aus dem formalen Recht auf Inklusion auch ein reales Recht wird.
Das erfordert die vollständige Umsetzung des Bürgerschaftsbeschlusses.
Die Initiative Gute Inklusion fordert außerdem:
Der Schulausschuss der Bürgerschaft soll sich am 26.11.19 in öffentlicher Anhörung mit dem Senatsbericht befassen, um eine qualifizierte Diskussion über die Fortschritte und drängenden Probleme der schulischen Inklusion zu ermöglichen.
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Das Menschenrecht auf Inklusion bedeutet uneingeschränkte Teilhabe
Die Versagung angemessener Vorkehrungen für die Teilhabe bedeutet eine Diskriminierung behinderter Menschen
In der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderung heißt es in Artikel 9:
„Um Menschen mit Behinderungen die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt zu gewährleisten. Diese Maßnahmen gelten u.a. für … Schulen.“ Im Artikel 2 wird „die Versagung angemessener Vorkehrungen“ für die Teilhabe als Diskriminierung gekennzeichnet. Die UN-Konvention ist geltendes Recht in Deutschland.
Anonymisierte Fallbeispiele
Svea kann in der Pause nicht zu ihren Freundinnen
Svea hat eine körperliche Behinderung und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie besucht eine inklusive Grundschule. Ihre Klasse ist im Erdgeschoss eines dreistöckigen Gebäudes untergebracht. Die Klassenräume mehrerer Freundinnen von Svea befinden sich in den anderen Stockwerken. Svea kann diese Freundinnen in der Pause nicht besuchen, weil kein Aufzug vorhanden ist. Der Antrag der Schule auf einen Fahrstuhl wurde von der Schulbehörde aus Kostengründen abgelehnt. Ihre Teilhabe wird dadurch eingeschränkt.
Emils Mutter musste ihn wegen fehlender Pflegekräfte auf eine Sonderschule umschulen
Emil hat schwere körperliche Beeinträchtigungen und benötigt pflegerische Unterstützung. Er war mit vielen befreundeten Kindern aus der Grundschule in die 5. Klasse einer inklusiven Stadtteilschule gewechselt und fühlte sich dort sehr wohl. Nach einem halben Jahr war die pflegerische Unterstützung wegen mangelnder Personalversorgung nicht mehr gewährleistet. Obwohl Emils Mutter sich bewusst für eine inklusive Schule entschieden hatte, sah sie sich gezwungen, in eine weiter entfernte Sonderschule zu wechseln. Für Emil existiert das Recht auf Inklusion jetzt nur noch auf dem Papier.
Lisa ist von Schulveranstaltungen ausgegrenzt
Lisa hat wie mehrere MitschülerInnen eine Hörbehinderung. Sie besucht eine inklusive Grundschule.
Die Pausenhalle ist zugleich der Veranstaltungsraum für Musik- und Theateraufführungen.
Lisa könnte wie alle anderen Kinder an diesen Aufführungen teilhaben und sich daran erfreuen, wenn die Pausenhalle eine Induktionsanlage für Hörgeschädigte hätte. Der Antrag der Schule auf eine solche Anlage wurde von der Schulbehörde aus Kostengründen abgelehnt. Das Recht auf Teilhabe wird für Lisa eingeschränkt.
Gökan und Mia können Projektausstellungen in ihrer Schule nicht besuchen
Gökan besucht eine inklusive Stadtteilschule, in der der Projektunterricht eine große Rolle spielt. Gökan ist wegen einer körperlichen Behinderung auf den Rollstuhl angewiesen. Während die anderen Klassen seines Jahrgangs in einem anderen Stockwerk untergebracht sind, liegt sein Klassenraum im Erdgeschoss, da kein Fahrstuhl vorhanden ist. Dasselbe gilt auch für Mia aus einem anderen Jahrgang. Beide Kinder können die Projektpräsentationen in anderen Klassen und Jahrgängen nicht besuchen. Ihr Recht auf Teilhabe ist eingeschränkt.
Anmerkungen
(1) Am 20.12.2017 beschloss die Bürgerschaft „Maßnahmen zur Verbesserung der Inklusion an Hamburgs Schulen – Einigung mit den Initiatoren der Volksinitiative gute Inklusion“ (Bürgerschaftsdrucksache 21/11428)
(2) s. Bürgerschaftsdrucksache 21/18872
(3) 718 Stellen für Lehrer/innen und 348 Stellen für Erzieher/innen und Sozialpädagog/inn/en
(4) 2010 waren rd. 1800 Schüler/innen und 2019 rd. 7400 Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Inklusion. Der Zuwachs fand zu über 90% im Bereich LSE statt.
(5) Es geht um die Förderschwerpunkte Hören, Sehen, Autismus, geistige und körperliche Entwicklung
(6) In den Wahlprogrammen beider Parteien war eine Personalerhöhung für die Inklusion nicht vorgesehen.
(7) Im 1. Halbjahr 2018/19 fielen 76% der Therapiestunden und 86% der Pflegestunden aus. Im 2. Halbjahr 2018/19 fielen 48% der Therapiestunden und 100% der Pflegestunden aus.
(8) In der Inklusion fallen im laufenden Schuljahr 26% der Therapiestunden und 84% der Pflegestunden aus. In den Sonderschulen fallen 2% der Therapiestunden und 32% der Pflegestunden aus.
(9) S. Bürgerschaftsdrucksache 21/18819