Senat beschönigt die Entwicklung der Inklusion in Hamburgs Schulen
Öffentliche Anhörung im Schulausschuss zur Umsetzung des Bürgerschaftsbeschlusses Konsens mit der Volksinitiative Gute Inklusion „Maßnahmen zur Verbesserung der Inklusion an Hamburgs Schulen“.
An der Schulausschusssitzung kann jede*r teilnehmen und einen Redebeitrag halten:
Fr 30.9.2022 um 17 Uhr im Rathaus R.151 .
Der Bürgerschaftsbeschluss Konsens mit der Volksinitiative Gute Inklusion (1) sieht vor, dass der Senat „jährlich der Bürgerschaft zu den erreichten Fortschritten und weiteren Handlungsbedarfen … berichtet (Inklusions-Monitoring).“
Der 3. Fortschrittsbericht des Senats zur Verbesserung der Inklusion an Hamburgs Schulen (2) beschönigt die Entwicklung der schulischen Inklusion.
Anteil der behinderten SchülerInnen in der Inklusion wird kleiner
Der Anteil der SchülerInnen mit einer Behinderung (geistige Entwicklung, körperlich motorische Entwicklung, Sehen, Hören) in der Inklusion ist von 45,6% (2016/17) auf 41,8% (2021/22) gesunken. (3)
Das ist die niedrigste Inklusionsquote seit 2012/13.
Es wäre eine zentrale Aufgabe des Senatsberichts gewesen, diese negative Entwicklung zu benennen, nach Ursachen zu forschen und Veränderungsmöglichkeiten zu erarbeiten.
Stattdessen wird der Senatsbericht schönfärberisch Fortschrittsbericht genannt und der drastische Rückgang der Inklusionsquote verschwiegen.
Die Initiative Gute Inklusion hat auf der Grundlage vieler Gespräche mit betroffenen Eltern, PädagogInnen und Schulleitungen die Ursachen der negativen Entwicklung herausgearbeitet.
Ursachen der sinkenden Inklusionsquote
• Die Versorgung mit Therapie und Pflege ist in der Inklusion gravierend schlechter als in den Sonderschulen.
• Eine umfassende Barrierefreiheit ist in den meisten inklusiven Schulen nicht gewährleistet im Gegensatz zu den Sonderschulen.
• Bei der Schulbegleitung für behinderte Schüler*innen fehlen Verlässlichkeit, Kontinuität und ausreichende Qualifikation.
• Die Doppelbesetzung im Unterricht wird in den inklusiven Schulen häufig für Vertretungsunterricht zweckentfremdet eingesetzt.
• Von der Covid-Pandemie sind die behinderten Schüler*innen in der Inklusion besonders stark betroffen.
• An vielen Schwerpunktschulen fehlt die Unterstützung für eine inklusive Unterrichts- und Schulentwicklung. Die neuen Bildungspläne werden dies zusätzlich erschweren.
Therapie und Pflege in der Inklusion
Das Therapie- und Pflegeangebot in der Inklusion ist gravierend schlechter als in den Sonderschulen.
25% der betroffenen Schüler*innen erhalten gar keine Therapie, weil an ihrer Schule weniger als fünf Schüler*innen mit einer körperlich-motorischen Behinderung sind.
Die Schüler*innen mit einer körperlich-motorischen Behinderung an den anderen inklusiven Schulen erhalten nur 78% der ihnen zustehenden Therapiestunden.
Diese Praxis steht in völligem Widerspruch zu den Aussagen des Senats: „Bei der Besetzung der Therapie- und Pflegestellen sind die speziellen Sonderschulen gehalten, sowohl die eigenen Bedarfe, also auch die Bedarfe der allgemeinen Schulen gleichermaßen und prioritätenneutral zu besetzen.“ (4)
Insgesamt erhalten die Schüler*innen mit einer körperlich-motorischen Behinderung in der Inklusion nur 60% der ihnen zustehenden Therapiestunden und 80% der Pflegestunden.
In den Sonderschulen sind es dagegen 100%. (5)
In den ersten Jahren nach dem Bürgerschaftsbeschluss war die Versorgung mit Therapie in der Inklusion noch dramatischer. Pflegekräfte gab es in der Inklusion gar nicht.
Daran gemessen, gibt es seit diesem Jahr sichtbare Verbesserungen wie die Einstellung von ErzieherInnen für die Pflege in der Inklusion und die Ausweitung der Therapiestunden auf SchülerInnen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
In den meisten inklusiven Schulen gibt es keine umfassende Barrierefreiheit
Selbst bei Neubauten wurde die Barrierefreiheit häufig auf den Einbau von Fahrstühlen und Behinderten-WC reduziert.
Der überarbeitete Leitfaden Barrierefreiheit im Schulbau sieht für Neubauten eine umfassende Barrierefreiheit für alle Formen von Behinderung vor.
Damit dies umgesetzt werden kann, muss u.a. die Kompetenz auf Seiten der Planenden/ ArchitektInnen sichergestellt sein, um diese komplexen Themen gut zu bearbeiten.
Die Anforderungen für Barrierefreiheit bei Umbau-/Sanierungsmaßnahmen sind im Leitfaden minimal gehalten. SchülerInnen sind hier nicht bedacht. Barrierefreiheit wird nur für Besuchsverkehr im erdgeschossigen, öffentlichen Schulbereich gefordert entsprechend der Hamburger Bauordnung.
Bei der Schulbegleitung fehlen Verlässlichkeit, Kontinuität und ausreichende Qualifikation
Schüler*innen mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung und körperlich motorische Entwicklung erhalten in der Regel FSJler als Schulbegleitung.
FSJler sind für ihre Aufgabe nicht qualifiziert.
FSJler sind nur ein Jahr in der Schulbegleitung tätig und steigen oft schon vorher aus, wenn sie ein Angebot für einen Ausbildungs- oder Studienplatz erhalten.
Die von der BSB vorgesehenen Stundensätze für pädagogisch ausgebildete Schulbegleitungen sind zu niedrig, um Tariflöhne zu bezahlen, so dass in diesem Bereich nicht ausreichend Schulbegleiter*innen zur Verfügung stehen.
Im Krankheitsfall werden Schulbegleitungen nicht vertreten.
Doppelbesetzung wird zugunsten von Vertretungsunterricht gekürzt
In dem Bürgerschaftsbeschluss Konsens mit der Volksinitiative Gute Inklusion heißt es:
„Die Schulbehörde soll darauf hinwirken, dass die Schulen die Doppelbesetzung in vollem Umfang sicherstellen. … Der Senat soll die Schulen in geeigneter Weise verpflichten, die … (Personal)Zuweisungen zweckentsprechend einzusetzen.“ (6)
In dem 3. Fortschrittsbericht (S.4) heißt es: „In den Qualitätsentwicklungsgesprächen des Schuljahres 2021/22 (soll) ein besonderes Augenmerk auf die sachgerechte Verwendung der Ressourcen für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen gelegt werden.“
Der Schulsenator setzt sich über den Bürgerschaftsbeschluss und seinen eigenen Fortschrittsbericht hinweg und verordnet den Schulleitungen, die Doppelbesetzung zweckentfremdet für Vertretungsunterricht zu nutzen. (7)
Das beeinträchtigt die Qualität des inklusiven Unterrichts erheblich.
Inklusive Unterrichts- und Schulentwicklung stärker fördern
Laut Senatsbericht wird das Projekt „Schwerpunktschulen stärken“ und das Modellprojekt „Möglichmacher“ bis Ende des Schuljahres 2021/22 verlängert. Inzwischen wurde eine weitere Verlängerung des Modellprojektes bis Sommer 2024 für die 11 Schwerpunktschulen beschlossen, die 2019 eingestiegen sind. Diese Verlängerung ist sinnvoll, weil in der Coronazeit die Projektarbeit sehr eingeschränkt war. Von den 67 Schwerpunktschulen können zurzeit nur 11 Schulen in dem vom Landesinstitut unterstützten Projekt zur Förderung einer inklusiven Unterrichts- und Schulentwicklung mitarbeiten. Für die qualitative Entwicklung der Inklusion wäre die Ausweitung des Projektes auf weitere Schwerpunktschulen dringend nötig.
In den neuen Bildungsplänen kommt Inklusion nur am Rande vor
Die neuen Bildungspläne gehen davon aus, dass die Schülerschaft weitgehend homogen ist und alle das Gleiche lernen sollen. Stattdessen muss aber das Lernen viel stärker individualisiert werden.
Für eine inklusive Unterrichtsentwicklung werden Bildungspläne benötigt, die das Menschenrecht auf Teilhabe und die Diversität, die Unterschiedlichkeit aller ins Zentrum von Lernen und Bildung stellen.
Die Pandemie trifft die behinderten Schüler*innen in der Inklusion besonders stark
Die Covid-Pandemie ist für die Schüler*innen mit einer Behinderung besonders belastend durch:
• negative psychische Auswirkungen
• Bewegungsmangel
• Ausfall von Therapie und Pflege
• Distanzunterricht
• keine häusliche Unterstützung durch die Schulbegleitung
• zu laute Luftfilter für Hörgeschädigte
Fazit
Für die betroffenen Kinder und Eltern muss in der Inklusion endlich ein den Sonderschulen gleichwertiges Angebot geschaffen werden, damit aus dem formalen Recht auf Inklusion auch ein wirkliches Recht wird.
Anmerkungen:
(1) Bürgerschaftsdrucksache 21/11428
(2) Bürgerschaftsdrucksache 22/6960
(3) Bürgerschaftsdrucksache 22/7187 und 22/8506
(4) Bürgerschaftsdrucksache 22/1525
(5) Bürgerschaftsdrucksache 22/7187, 22/7188
(6) Bürgerschaftsbeschluss „Maßnahmen zur Verbesserung der Inklusion“ Drs. 21/11428 S.4 und S.6
(7) Bürgerschaftsdrucksache 22/7111, Hamburger Abendblatt 2.2.22